Digitale Selbstorganisation von Gruppen
Viele zivilgesellschaftliche Gruppen organisieren sich heute über digitale Medien und Plattformen und kombinieren das mit „echten“ Treffen der aktiven Leute. Weil im Internet scheinbar alles „kostenlos“ ist, benutzt man Werkzeuge, die die Leute kennen und die „ohne Kosten“ leicht zu bedienen sind. Systematische Planung und Prüfung, welches Werkzeug für welchen Zweck wie gut geeignet ist, ist selten. Dieser Text soll die Lücke ein wenig schliessen.
Typische Tools in Deutschland
In Deutschland sind Facebook Gruppen oder eine Chatgruppe auf Signal oder Telegram oft der Einstieg zur Gruppen-Kommunikation im Internet. Dazu kommt das in Sachen Datenschutz vorbildliche und daher im geschäftlichen Umfeld verbreitete Threema aus der Schweiz. Das aber wegen der Einmalkosten von 3,99€ für die App Lizenz eine geringe Verbreitung unter Privatleuten hat. Ausserdem gibt es noch die Mailinglisten als „Erweiterung“ der persönlichen E-Mail, die Anfang der 90er Jahre oder früher entstanden sind. Heute spielen sie nur noch eine Rolle für technik-affine „Nerds“, nicht für die breite Masse der „normalen“ Internet-Nutzer.
Schneller Einstieg für viele
Viele Leute haben schon ein Konto bei einem Chat-Dienst, das sie von ihrem Mobilgerät oder Tablet lesen können (69% der Internet Nutzung in Deutschland passiert auf Mobilgeräten). Eine Chat-Gruppe auf Signal ist schnell aufgesetzt. Die Installation ist kostenlos und der Einstieg (das „onboarding“) nieder-schwellig. Wer öfters am Rechner sitzt, benutzt eine Web-Anwendung im Browser für den Zugriff zum Chat-Dienst: dann kann man alles auch am Laptop verfolgen und befüttern.
Sobald die Chatgruppe eine bestimmte Anzahl von Mitlesern hat (90% der Teilnehmer in digitalen Medien sind normalerweise Leser), merkt man, wie praktisch es ist, wenn man kurz ’ne Info verbreitet und alle Abonnenten das mitbekommen und reagieren können, sobald sie Zeit haben. Für kurze Infos, für einfache Fragen oder Verweise auf andere Infoquellen im Netz („Links“) ist Chat unschlagbar praktisch.
Typische Probleme in Chats werden erst mit Verzögerung sichtbar
Sobald eine Chat Gruppe länger läuft und mehr Teilnehmer nicht nur Leser, sondern Autoren sind, werden Defizite und Beschränkungen der Chat Kommunikation sichtbar:
- Chat Software ist für kurze, unformatierte Texte ausgelegt
- Zusätzliche Meta-Information gibt es nur hilfsweise durch die optische Garnierung mit Emojis.
- geschriebene Texte kann man nicht nachträglich korrigieren
- Längere, strukturierte Texte sind kaum möglich. Formatierungen wie Hervorhebungen, die Markierung von Zitaten und andere Struktur-Elemente gibt es nicht.
- Die Einbindung von visuellen Inhalten (Bild, Video) und Querverweisen auf externe Inhalte im Netz ist nur rudimentär.
Diskutieren, Wissen speichern und wieder finden funktionieren nicht
Der Verlauf der Kommunikation in einer Chat-Gruppe ist immer chronologisch. Es gibt – ausser dem Namen der Chat-Gruppe selbst – keinen konkreten inhaltlichen Kontext („Überschrift“). Sobald zwei Personen-Gruppen in der gleichen Chatgruppe über verschiedene Themen kommunizieren, ist nicht mehr erkennbar, welcher Text-Schnipsel zu welchem Kontext gehört. Je länger die Kommunikation zurückliegt, umso schwieriger wird es, den Überblick zu behalten, das Konzept der Diskussions-Fäden („Threads“) aus anderen Medien wie E-Mail existiert in Chat-Medien nicht (eine Ausnahme bildet Rocket.Chat, dort gibt es als Option einen Chatverlauf, bei dem die Antworten in einer thematischen Kette laufen). Eine echte Suchfunktion, die über das Suchen nach einfachen Buchstabenfolgen hinausgeht, fehlt genau wie eine längerfristige Historie.
Kostenlos ist nicht kostenlos
Neben den bekannten Chat Systemen (Signal, Telegram, Rocket.Chat, discord) gibt es „die grossen“ Plattform-Lösungen im Internet wie Facebook, Instagram und Twitter. Sie preisen sich als „kostenlos“ an, sind es aber nicht. Es gibt auch keinen Grund, ihrem Marketing-Geklingel über „privacy“ zu glauben. Die Währung Im „kostenlosen“ Internet sind immer die Daten der Teilnehmer. Der Preis ist unsichtbar, aber jeder bezahlt ihn, ohne zu wissen, welche Information genau fliesst und wieviel davon. Diese Zahlung passiert „freiwillig“, mit jeder Anmeldung an einer der grossen Plattformen Facebook, Instagram, Twitter, Tiktok und Co.
Fazit 1: Chat-Gruppen funktionieren nur in engen Grenzen
Zusammengefasst sind Chat Gruppen nur für kurze und zeitnahe Kommunkations-Schnipsel oder für Informationen mit Ankündigungs-Charakter (ohne Rückmeldung) ideal. Aber nicht für Themen, die über einen längeren Zeitraum relevant bleiben. Auch nicht für Diskussionen in größeren Gruppen oder für Informationen mit dokumentarischem Charakter („Wissensmanagement“). Wobei „grosse Gruppe“ schon bei zehn aktiven Personen anfängt. Bei jeder etwas komplexeren Form zwischen-menschlicher Kommunikation in grössseren Gruppen kommen Chat Gruppen schnell an ihre Grenzen.
Fazit 2: Internet Plattformen sind trotz Reichweite keine Lösung
Nicht mehr „freiwillig“ wird es, sobald eine Organisation oder eine Gruppe ihre Informationen exklusiv bei Facebook oder Twitter präsentiert. Dann wird jeder Leser gezwungen, erst mal seine Daten „am Eingang abzugeben“, bevor er Zugriff auf die Inhalte bekommt.
Zusätzlich werden die eigentlichen Inhalte durch eingeblendete Werbung „angereichert“ bzw. gestört. Was -je nach Thema- zu merkwürdigen Effekten führen kann, wenn z.B. neben einem Aufruf zur Hilfe für ukrainische Geflüchtete Werbung für Waffen auftaucht (zugegeben, in Deutschland selten, in den USA nicht).
Was ist die Lösung?
An dieser Stelle kommt ein Werkzeug ins Spiel, das zwar etwas komplexer, aber nach kurzer Einarbeitung wesentlich effektiver ist – unabhängig davon, wie lange eine Arbeitsgruppe existiert oder wie gross die Zahl ihrer Teilnehmer ist.
Die seit 2013 entwickelte Web-Forum Software Discourse ist mit ca. 30.000 Installationen weltweit das dominierende Werkzeug für die digital gestützte „Diskussion im Internet“ in Werbe-freien Umgebungen – sowohl für nichtkommerzielle wie für kommerzielle Anwender. Die Software ist open-source, verbindet Funktionen klassischer Web-Foren mit Funktionen aus den sozialen Medien und ist sowohl auf dem Desktop/Laptop wie auf Mobilgeräten (App Discourse Hub) kostenfrei nutzbar.
Als open-source Software wird Discourse meist auf eigenen Systemen dezentral „vor Ort“ betrieben („on premise“). Alternativ mietet man den Betrieb einer Discourse Instanz bei einem Provider an („SaaS, software as a service“). Die Firma des Entwickler Teams von Discourse bietet diese Dienstleistung auf discourse.org an. Technische Basis dafür istdie weltweite Cloud-Infrastruktur von AWS (Amazon Web Services).
Funktionen in Discourse, die es im Chat nicht gibt
- Mandantenfähigkeit (mehrere getrennte Communities in einer gemeinsamen Instanz
- Diskussionsfäden (Threads) mit thematisch-inhaltlicher Strukturierung in Kategorien und mit Schlagworten, damit schnelles „Wiederfinden“ von Inhalten, auch über einen langen Zeitraum und mit vielen Teilnehmern und unterschiedlichen Themen
- Postings sind nachträglich änderbar
- Wiki-Texte zur Dokumentation von Informationen, die über einen längeren Zeitraum relevant sind und kollaborativ gepflegt werden können
- schneller Wechsel zwischen kontext-orientierter (langsamerer) Diskussion in einem „Diskussions-Thread“ und schnellerer Kurz-Kommunikation ohne Kontext im Chat (neue Funktion 07/2022).
- optionale Integration von Videokonferenz-Systemen erlaubt den Wechsel zum Gespräch „von Angesicht zu Angesicht“ (Stimme und Bild). Die vermeidet Missverständnisse und verbale Eskalationen, für die Text-gebundene Digitalmedien wie E-Mail und Chat oft anfällig sind.
- Such- und Archivierungs-Funktionen nach Stichworten, Zeiträumen usw.
- ausgefeilte Moderations-Möglichkeiten
- automatisches Onboarding und Benutzer-Selbstverwaltung über Einladungs-Links
- automatische Benachrichtigung aller Teilnehmer per Mail, entsprechend der individuellen Aktivitätsmuster und Interessen
- anonymisierte Statistik des Kommunikations-Verhaltens einer Community über Dashboards
- modularer Aufbau mit vielen Zusatzfunktionen über Plugins (z.B. Umfragen, Termin-Management usw.)
Die Funktionalität von Discourse ähnelt kommerziellen Systemen wie Microsoft Teams oder Slack, die in Unternehmen immer häufiger Grundlage für die Zusammenarbeit in kleinen und grossen Projekt-Teams sind. Der Wechsel zwischen Kommunikationsformen (kurzer Chat, kontext-bezogene Diskussion per Mail und Forum, „face to face“ Kommunikation mit Sprache und Bild in Videokonferenzen, dazu physische Treffen und „Kaffee-Gespräche“) entwickelt sich zum Standard für die hybride Interaktion und Kollaboration in Gruppen.
Nie als Ersatz für reale Begegnungen zwischen „echten“ Menschen, sondern als Ergänzung, um Synergien und Effizienz in der Team-Kommunikation zu verbessern.